Maigret 27 by Simenon

Maigret 27 by Simenon

Autor:Simenon
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-05T05:00:00+00:00


6

M

aigret ging hinter seinem Clown eine Treppe mit knarrenden Stufen hinauf. Dexter hielt es aus unerfindlichen Gründen für nötig, auf den Fußspitzen zu gehen, und der Kommissar überraschte sich dabei, daß er versuchte, es ihm nachzutun.

Der melancholische Detektiv hatte seinen Ginrausch ausgeschlafen, und wenn sein Blick auch noch verschleiert, die Zunge nicht recht beweglich war, so sprach er doch nicht mehr so weinerlich.

Er hatte dem Taxichauffeur eine Adresse in Greenwich Village genannt, und Maigret war überrascht, mitten in New York, in Wolkenkratzernähe, eine Kleinstadt zu finden, deren Häuser nicht höher waren als die von Bordeaux und Dijon, mit provinziellen Geschäften und ruhigen Straßen, in denen man gemächlich bummeln konnte, eine Kleinstadt, deren Bewohner sich um die Riesenstadt, die sie umgab, nicht zu kümmern schienen.

»Hier ist es«, sagte Dexter. Er sagte es mit einer verhaltenen Unsicherheit, die Maigret veranlaßte, ihn scharf anzusehen.

»Es ist doch wahr, daß Sie meinen Besuch angekündigt haben?«

»Ich habe gesagt, daß Sie vielleicht kommen würden.«

»Und was haben Sie gesagt, wer ich sei?« Das hatte er erwartet: der Clown wurde verwirrt. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen … Ich wußte nicht recht, wie ich mich verhalten sollte … Germain ist ja menschenscheu und mißtrauisch geworden, und außerdem hat er mir, als ich ihn das erstemal besuchte, ein oder zwei Gläser zu trinken gegeben … Ich weiß also nicht mehr genau, was ich ihm erzählt habe … ich habe ihm wohl gesagt, Sie wären sehr reich und suchten einen Sohn, den Sie nie gesehen hätten … Seien Sie mir nicht böse … ich tat mein Bestes … er war jedenfalls sehr ergriffen, und deshalb glaube ich auch, daß er sich mit seinen Nachforschungen so beeilt hat.«

Es war die reine Idiotie! Zu was für Schwindelgeschichten noch mochte der Alkohol die Phantasie Dexters angeregt haben?

Je näher sie der Wohnung des einstigen komischen Augusts kamen, desto mehr schien er zu zögern. Hatte er vielleicht auch ihn, Maigret, belogen? Nein, dagegen sprachen die Papiere, die er gebracht hatte …

Unter einer Tür schimmerte ein Lichtstreifen. Man hörte ein leise geführtes Gespräch. Dexter stotterte:

»Sie müssen klopfen, es gibt keine Klingel.« Maigret klopfte. Erst Stille, dann ein Räuspern, dann das Geräusch einer Tasse, die man auf eine Untertasse stellte.

»Herein!«

Eine schmale, zerrissene Strohmatte bildete den Übergang in eine andere Welt, in eine entschwundene Zeit. Zwei Schritte von den Wolkenkratzern, die um diese Zeit ihre ganzen Lichter in den Himmel über Manhattan warfen, war man plötzlich nicht mehr in New York. War überhaupt die Elektrizität schon erfunden?

Man hätte darauf schwören können, daß eine Petroleumlampe das Zimmer beleuchtete, ein Eindruck, der daher kam, daß ein großer, gefältelter, rotseidener Lampenschirm eine Stehlampe krönte.

Es fiel nur ein kreisrunder Lichtschein in die Mitte der Stube, und in diesem Kreis saß ein alter Mann in einem Rollstuhl. Er mußte früher sehr dick gewesen sein und war immer noch umfangreich, füllte den Stuhl vollkommen aus; er war aber so schlaff und welk, daß man den Eindruck haben konnte, er sei schlecht aufgeblasen. Um seinen fast kahlen Schädel flatterten einige weiße Haare. Er beugte den Kopf vor, um die Besucher über die Brillengläser zu betrachten.



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